30. Juni 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Vergessene Lieder, vergessene Lieb

Vergessene Lieder, vergessene Lieb
Vergessene Lieder, vergessene Lieb
Es ist ein Album mit sehr persönlichen Erinnerungen, das die Schweizer Sopranistin Melanie Adami vorlegt. Eingesungen wurden Lieder ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller (1900–1974), der in Winterthur und St. Gallen vielleicht nicht ganz vergessen wurde (in Wintherthur gründete er das Kammerorchester), ferner einzelne Gesänge vier weiterer Komponisten, die innerhalb der Familie in einem Notenkonvolut überliefert wurden. Dass diese gänzlich vergessenen Lieder erst jetzt zum Vorschein kommen, ist der «Kulturpause» von 2020 zu verdanken – eine Zeit, in der wohl alle liegen gebliebene Sachen einmal durchgeschaut haben und das eine oder andere mit Verblüffung in die Hände nahmen. In diesem Fall entstand etwas später ein Album, das eine Auswahl von 13 Gesängen präsentiert, dazu einzelnes von A. Bela Laszky (1867–1935), Ernst von Dohnanyi (1877–1960), Eugen Hildach (1849–1924) und Carl Götze (1836–1887) sowie das vollständige Opus 31 von Franz Ries (1846–1932).

Es sind stilistisch der Romantik verpflichtete Lieder, die hier erklingen. Und sie haben eine biographische Komponente: Als der einst in Wien und die k.u.k. Monarchie hineingeborene Willy Heinz Müller nach dem Ersten Weltkrieg ans Heiraten dachte, verdingte er sich in Nürnberg in einer «Kunstanstalt für Abziehbilder» und komponierte aus der Ferne für seine geliebten Verlobten. Dass die frühen Lieder einzelne Opuszahlen tragen, mag etwas verwundern, doch blieben sie auch unveröffentlicht. Müller erlangte schließlich 1926 ein Engagement als Musiker im Lichtspielkino Palace im schweizerischen St. Gallen, wurde 1943 (!) eingebürgert und setzte seine Arbeit eher im Stillen fort. Eine gewisse eigene Handschrift und Ausdruckswelt ist ihm nicht abzusprechen – und doch sind Gesänge und Lieder nie losgelöst von den gewählten Vorlagen zu denken, die eben bereits kompositorisch interpretieren. Das Programm wird wechselseitig von Melanie Adami und Äneas Humm gesungen – teilweise im Duett (Laszky, Hildach, Götze), teilweise auf kleine Blöcke verteilt. Was dabei akustisch erstaunt, ist der in dem Solo gegenüber dem Flügel etwas in den Hintergrund gerückte Bariton von Äneas Humm, spürbar besonders in den Liedern von Franz Ries (1846–1932).

Vergessene Lieder, vergessene Lieb
Willy Heinz Müller. Träumen op. 7; Schließe mir die Augen beide op. 9; Von userer Liebe op. 11; Ich habe gegraben op. 12; Blümlein steht am Walde op. 13/1; Sonne op. 13/2; Siebe Lieder op. 14; A. Béla Laszky. Auf einen Zweig von Rosen; Ernst von Dohnányi. Was weinst du, meine Geige? op. 14/1; So fügt sich Blüt’ an Blütezeit op. 14/2; Vergessene Lieder, vergessene Lieb op. 14/6; Ferdinand Ries. Sechs Lieder op. 31; Eugen Hildach: Abschied der Vögel op. 14/1; Carl Götze. Still wie die Nacht, tief wie das Meer
Melanie Adami (Sopran), Äneas Humm (Bariton), Judit Polgar (Klavier)

Prospero PROSP 0087 (2023)

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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  • Vergessene Lieder, vergessene Lieb
Teil 1 von 1 in Michael Kubes HörBar #160 – forgotten music

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