29. Juni 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ukho Ensemble Kyiv – Gérard Grisey: Vortex Temporum

Ukho Ensemble Kyiv – Gérard Grisey: Vortex Temporum
Ukho Ensemble Kyiv – Gérard Grisey: Vortex Temporum

Gérard Griseys Komposition «Vortex Temporum» gehört zu seinem Spätwerk und wird der Spielart des «Spektralismus» (Wikipedia) zugerechnet. Max Nyffeler charakterisierte die Komposition folgendermaßen:

«Die groß dimensionierte, rund 35 Minuten dauernde Komposition für Klavier und fünf Instrumente entstand 1994-96. Das spektrale Komponieren ist hier in ein Stadium der Verfeinerung getreten, indem einzelne Teiltöne, manchmal sogar die ganze Obertonreihe, um einen Viertelton nach oben oder unten verschoben werden, so dass das harmonische Gesamtbild verfremdet wird und Zusammenklänge von großer Komplexität entstehen. Im Klavier sind die vier Töne c, dis’, a’ und fis’ für das ganze Stück um einen Viertelton tiefer gestimmt.» (Quelle: Max Nyffeler – Gérard Grisey: Périodes und Vortex temporum)

Herausgekommen ist dabei ein flirrendes Klanggeflecht, das sowohl zartes Tongewebe erzeugt, die durch die Instrumentation aus Klavierquartett mit Klarinette und Flöte wundersam an Maurice Ravel ebenso erinnert, wie in der schleifend-schreitend düsteren Leere des zweiten Teilstücks. Grisey evoziert hier eine emotionale Tiefgängigkeit, die sofort mitnimmt. Jedenfalls ist das bei dieser Aufnahme mit dem Ukho Ensemble Kyiv unter der Leitung von Luigi Gaggero so. Es handelt sich um einen Live-Mitschnitt beim Stuttgarter Festival «Musik der Jahrhunderte» im Dezember 2022. So abbrausend wird hier die Musik entfaltet, wie es das in der jüngeren Geschichte der Musik der Gegenwart selten zu finden ist. Ende des zweiten Teils rauscht es in die Unendlichkeit eines unfasslichen Ungefährs – beeindruckend! So viel Buntheit neben und in so vielem Grauen.

Insgesamt handelt es sich um eine deutliche langsamere Interpretation als beispielsweise beim «Risognanze Ensemble» (2007 – Stradivarius) oder beim Ensemble «Prague Modern» (2019 – Stradivarius). Das «Ukho Ensemble Kyiv» rückt dagegen erschütternd nahe an die Hörer:innen durch die Abmischung heran.

Das Label «Kyiv Dispatch» agiert hier mit ganzer ästhetischer Konsequenz, trotz des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine die Relevanz autonomer Zeitkunst einem breiten Publikum zugänglich zu machen, wie schon bei Viktoriia Vitrenkos «Limbo» (rezensiert in der HörBar).


Ukho Ensemble Kyiv, Luigi Gaggero – Gérard Grisey: Vortex Temporum [2025]
Gérard Grisey: Vortex Temporum (1994-1996) for piano and five instruments

  • Inna Vorobets – flute
  • Dmytro Pashynskyi – clarinet
  • Dina Pysarenko – piano
  • Rachel Koblyakov – violin
  • Andriy Savych – viola
  • Raphaël Ginsburg – cello
  • Conducted by Luigi Gaggero

Kyiv Dispatch, Cat No: KD077-03 (VÖ: 9.5.2025)

Autor

  • Martin Hufner. Foto: Kurt Hufner

    Martin Hufner ist Musikjournalist, Musikwissenschaftler, Blogger. Er betreut nebenbei die Online-Redaktion der neuen musikzeitung.

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hoerbar_nmz

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