18. Januar 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Xilin Wang

Xilin Wang
Xilin Wang
Noch immer ist die aus China stammende «klassische Musik» eine weitgehende terra incognita. Nur ganz wenige Einzelwerke sind allein dem Namen nach präsent (wie etwa das Violinkonzert «Butterfly Lovers» von Gang Chen), bei Komponisten-Persönlichkeiten wird es wohl noch schwieriger. Vielleicht sind es die Kulturen oder die Repertoire-Traditionen, sicherlich auch der fehlende Mut zu Experimenten unter diesen Voraussetzungen. Da helfen dann zunächst einmal Einspielungen – wie das vorliegende mit der Sinfonie Nr. 3 von Xilin Wang (*1936). Noch nie gehört? So ging es mir auch. Doch je länger die Musik sich entfaltete, je öfter ich hie und da einen Stopp machte, eine Passage noch einmal zu hören, desto mehr erschloss sich die große, mehr als einstündige Partitur aus dem Jahr 1990 mit ihren vier Sätzen.

«Zeitgenössisch» ist sie freilich nur im übertragenen Sinne, stilistisch steht sie zwischen den Welten – und ergreift musikalisch Partei. Schon die bohrenden Basslinien des ersten Satzes (Adagio) erinnern an Schostakowitsch, und wirft man einen Blick auf die Biographie von Xilin Wang, wird klar, dass er wohl genau weiß, wovon er spricht: Geschrieben wurde das Werk sie unter dem Eindruck des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Juni 1989), gewidmet ist es «den Menschen mit hohen Idealen, die überall auf der Welt für Demokratie und Freiheit eintreten.» Und mehr noch bekennt Xilin Wang: «Ich möchte nicht nur für mich selbst schreiben, sondern die lange Geschichte und die vielen Seiten des Menschlichen schildern. Für die vielen Menschen, die dabei umgekommen sind, komponiere ich.» Es ist tatsächlich eine Komposition für die Gegenwart, und es drückt dies auch aus: tragisch, bedrohlich, alarmierend, wuchtig, am Ende ohne Ausweg, ohne Erlösung. – Der Live-Mitschnitt aus Beijing von 2018 klingt voll und satt, das von Emmanuel Siffert geleitete China National Symphony Orchestra zeigt sich in Bestform für ein Werk, das seine Botschaft äußern durfte. Auf den dokumentierten Schlussapplaus hätte ich allerdings aus reiner Hör-Perspektive gerne verzichtet.

Xilin Wang. Sinfonie Nr. 3 op. 26 (1990)
China National Symphony Orchestra, Emmanuel Siffert

Wergo 7392-2 (2018)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 3 von 4 in Michael Kubes HörBar #143 – zeitgenössische Sinfonik

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