12. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Rafael Payare / Pelleas und Melisande

Rafael Payare / Pelleas und Melisande
Rafael Payare / Pelleas und Melisande
Dieses Album passt in dieses Jubeljahr, in dem kaum ernsthaft gejubelt wurde. Denn sowohl mit der Verklärten Nacht op. 4 (in der späteren Fassung für Streichorchester) als auch mit Pelléas und Mélisande op. 5 – beides sinfonische Dichtungen in hochromantischer Tonsprache – ist man auf der sicheren Seite der Musikgeschichte und des breiten Musikgeschmacks. Aufnahmen wie diese lassen beim Hörer allzu schnell die Frage aufkommen, warum Schönberg nicht in dieser Weise weiterkomponiert hat. Denkt man hingegen etwas freier «nach vorne», erscheint der später eingeschlagene Weg über die tonalen Grenzen hinweg angesichts dieser glühenden Partituren nur konsequent. Dass Schönberg dann sein Tonsystem gleichsam «preußisch» organisierte, steht auf einem anderen Blatt. Aber selbst die späteren Orchesterwerke atmen Expressivität.

Nun könnte man meinen, dass ein Orchester aus dem frankophilen Teil Kanadas eine besondere Beziehung zu Pelléas und Mélisande haben könnte, einer Dichtung, die um die Jahrhundertwende nicht nur mehrere Komponisten inspirierte, sondern wohl auch ein Lebensgefühl spiegelte. Seitdem sind mehr als 100 Jahre vergangen – und so bleibt nur die Möglichkeit, das Werk aus der Gegenwart heraus zu interpretieren (wobei jüngst Mahlers 9. Sinfonie auf Instrumenten der Epoche verblüffende, faszinierende, vor allem aber erhellende Klänge und Konstellationen hervorbrachte). Rafael Payare, parallel Musikdirektor in San Diego und Montréal und neuerdings auch mit Gastdirigaten in der «Alten Welt» präsent, nähert sich der großen Partitur mit verhaltener Distanz. Satte Süffigkeit ist ihm ebenso fremd wie eine rein analytische Sichtweise. Allerdings entwickelt er auch kein narratives Element, um die Abschnitte, Linien oder Gesten zusammen zu halten. Die knapp 45 Minuten zerfallen in Einzelbilder, die in Textur und Farbigkeit klar ausgeleuchtet sind, aber kaum miteinander korrespondieren. Mir ist das zu wenig für diese ergreifende Vertonung. Ähnliches gilt für die Verklärte Nacht. Schon die ersten Takte lassen das geheimnisvolle Raunen vermissen, Dynamik und motivische Entwicklung werden quasi vom Ende her erzählt – das nimmt der Partitur zu viel von ihrer Kraft.

Arnold Schönberg. Pelléas und Mélisande op. 5; Verklärte Nacht op. 4
Orchestre symphonique de Montreal, Rafael Payare

Pentatone PTC 5187 218 (2024)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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