Für viele Musikliebhaber ist er in diesem Jahr ein wahrhaft ungeliebter Jubilar. Auf Programmen im Konzertsaal waren einmal Werke zu finden, auch haben sich die großen wie die kleinen Labels mit alarmierend unübersehbarer Auffälligkeit bei Neuerscheinungen zurückgehalten. Es reicht kaum aus, mit der Verklärten Nacht op. 4 oder der großen sinfonischen Dichtung Pelléas et Mélisande op. 5 zu reüssieren, um Arnold Schönberg zu huldigen. Freilich macht er es mit seiner oft als abstrakt empfundenen Musik, seinen Ansichten und seiner selbstfixierten Person bis heute nicht leicht, für diese große Musik in ihrer ganzen Breite einzutreten. Derzeit nicht zu finden: eine aktuelle Erwartung, die Orchesterstücke oder die späten (tonalen!) Variationen, Kammermusik jenseits von Streichquartett und des Streichtrio.
Umso erfreuter könnte man auf dieses Album mit ausgewählten Liedern und Gesängen blicken. Unter dem Motto «Expressionistische Musik» hat Claire Booth insgesamt 22 Stücke eingesungen (zwei Klavierstücke aus op. 19 kommen noch hinzu), die in jeweils Dreiergruppen angeordnet sind: Expectation, Flesh, Nocturne, Hatred, Satire, Thinking, Winter Scene und Tears. Das ist Ausdruck einer konzeptionellen Arbeit, die allerdings als solche gedruckte Sammlungen auseinander reißt und mit zweifelhaftem Gewinn neu ordnet. Was von der Idee dahinter beim Hörer ankommt, bleibt aus mehreren Gründen fraglich: Wer das Album streamt, erfährt in der Regel nicht von den Überschriften. Zudem fehlen in diesem Fall mit dem Booklet die Liedtexte – die hier aber ein unverzichtbarer Teil der Produktion sein müssten: nicht nur wegen der international üblichen englischen Übersetzung, sondern auch wegen der deutschen Originale, die durch Lautverschiebungen und Akzent kaum durchgehend verständlich rezipiert werden können. Bei dieser Musik reicht es aber kaum aus, nur dem Tonfall zu folgen, den Claire Booth mit ihrer dramatischen Diktion detailliert auslotet und von Christopher Glynn delikat begleitet wird. Diese Produktion wurde vermutlich einfach nur beiläufig (oder gar nicht) beraten. Und so enttäuscht sie trotz aller Musikalität.
Arnold Schönberg. Expressionist Music
Erwartung op. 2/1; Alles op. 6/2; Hochzeitslied op. 3/4; Mädchenlied op. 6/3; Schenk mir deinen goldenen Kamm op. 2/2; Lockung op. 6/7; Waldsonne op. 2/4; Sehr langsam (Klavierstück) op. 19/3; Traumleben op. 6/1; Warnung op. 3/3; Tot op. 48/2; Am Wegrand op. 6/6; Der genügsame Liebhaber (Brettl-Lieder); Mädchenlied op. 48/3; Galathea (Brettl-Lieder); Gedenken op. posth.; Der Wanderer op. 6/8; Geübtes Herz op. 3/5; Sommermüd op. 48/1; Mein Herz ist mir gemenget (Deutsches Volkslied); In diesen Winterlagen op. 14/2; Jane Grey op. 12/1; Lied Toves – Nun sag ich dir (aus: Gurrelieder); Sehr langsam (Klavierstück) op. 19/6
Claire Booth (Sopran), Christopher Glynn (Klavier)
Orchid ORC 100306 (2023)