Nicht wahr? Angeblich gibt es genügend musikalische Laien, die ein Musikstück aus der Epoche des Barock für «Kirchenmusik« halten. Es muss der Ernst des Kontrapunkts und der geordnete Generalbass sein (auch in einer neckischen Sonate für Flûte à bec), die dazu verleiten. Man kann das als eine überzeitlich erhabene Universalität dieser Stilmerkmale sehen, die auch unerfahrene Hörer:innen anspricht. Warum sonst sollte Bachs Weihnachtsoratorium immer noch in den Weihnachts-Charts stehen? Die Hörbar wird in dieser Woche jedenfalls einmal ganz ohne das berühmte «WO» auskommen und den Blick auf ganz andere Produktionen richten. Den Anfang machen «alte Bekannte» – nämlich der RIAS Kammerchor und sein Chefdirigent Justin Doyle sowie die Akademie für Alte Musik Berlin.
Bach ist dennoch dabei, allerdings mit dem Magnificat BWV 243 in der ersten Fassung in Es-Dur und mit Interpolierung von Weihnachtschorälen. Das Erstaunliche an dieser Aufnahme: Sie klingt so, wie ich es erwartet habe. Und zwar interpretatorisch wie akustisch. Man könnte sich also entspannt zurücklehnen. Aber was sagt uns das? Kein überraschendes Element, keine individuelle Leistung, die das herausragende Niveau nochmals übertrifft? Will man so auf Kommendes warten und genießen? Schwierige Fragen – zumal hier das Magnificat mit dem Utrechter Te Deum von Georg Friedrich Händel gekoppelt wurde. Das nämlich ist ein politisch motiviertes und beauftragtes Repräsentationswerk, wie eigentlich jedes Te Deum (laudamus). Es steht am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, als sich Großbritannien (wie alle anderen) unter den Siegern wähnte. Kein Wort von den vielen namenlosen Opfern für Staat und Krone, die ihren Kopf für Macht und Einfluss hinhielten, wo es zunächst nichts zu verteidigen gab. Beide Werke nebeneinander offenbaren ein Spannungsverhältnis, das auch ein wenig über die Distanz zweier Meister aussagt, die sich nie persönlich begegnet sind und in völlig verschiedenen Welten unterwegs waren. Die Werkeinführung im Booklet gibt dazu ein paar Hinweise, die es zu abstrahieren und weiterzudenken gilt. Ein interessantes Album.
Johann Sebastian Bach. Magnificat Es-Dur BWV 243a; Georg Friedrich Händel. Utrechter Te Deum D-Dur HWV 278
Nuria Rial (Sopran), Marie-Sophie Pollak (Sopran), Alex Potter (Alt), Kieran Carrel (Tenor), Roderick Williams (Bass), RIAS Kammerchor, Akademie für Alte Musik Berlin, Justin Doyle
harmonia mundi HMM 902730 (2024)