Ein Doppelalbum, das den Blick auf einen oft unterrepräsentierten Teil der frühen Leipziger Kantaten lenkt, nämlich auf die zwischen Juli 1726 und Februar 1727 entstandenen Solowerke, die (bis auf einen abschließenden Choral) ganz ohne Chor auskommen. Charakteristisch für die Kompositionen ist ihre gedeckte Farbigkeit – sowohl in der Wahl der Stimmlage (Alt und Bass) als auch in der Hinzunahme der Oboen. Auch die Libretti, die häufig das «Ich» des Gläubigen in den Mittelpunkt stellen, legen eine solistische Besetzung nahe und eine Faktur, die trotz konzertanter Elemente (etwa der obligat geführten Orgel) eher kammermusikalisch wirkt und die Musik in den Rahmen einer Andacht stellt.
Mit Peter Kooij ist ein Solist zu hören, der schon in früheren Jahren für genau dieses Repertoire interpretatorisch prägend war. Bis in die 1990er Jahre lässt sich das zurückverfolgen (Herreweghe), mit der Einspielung unter Masaaki Suzuki (2006) war schließlich sein sängerischer Höhepunkt erreicht. Dass die neuerliche Sicht auf die Kantaten, insbesondere BWV 56 und BWV 82, dennoch ein «Muss» ist, liegt am Zusammenspiel mit dem L’Orfeo Barockorchester (Konzertmeisterin: Michi Gaigg) und an der hervorragenden, gleichsam privaten Akustik voll expressiver Intimität – vokal wie instrumental. Die Stimme von Margot Oitzinger klingt dagegen weniger präsent, auch die Artikulation ist undeutlicher. Zwei weitere Sänger:innen komplettieren das Quartett für die Choräle. Eine Einspielung, die «zu später Stunde» zum Nachdenken anregt.
Johann Sebastian Bach. «Ich will den Kreuzstab gerne tragen» BWV 56; «Vergnügte Ruh’, beliebte Seelenlust» BWV 170; «Widerstehe doch der Sünde» BWV 54; «Der Friede sei mit dir» BWV 158; «Geist und Seele wird verwirret» BWV 35; «Ich habe genug» BWV 82; «Gott soll allein mein Herze haben» BWV 169
Margot Oitzinger (Alt), Peter Kooij (Bass), Maria Deger (Sopran), Klemens Mölkner (Tenor), Jan Jansen (Orgel), L’Orfeo Barockorchester
cpo 555 690-2 (2023)