12. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ballets Russes

Ballets Russes
Ballets Russes
Die Zusammenarbeit zwischen Igor Strawinsky, Sergei Diaghilew und den 1909 gegründeten Ballets Russes ist legendär. Bis heute werden mit ihr die drei Ballette L’oiseau de feu (Feuervogel, 1910), Petruschka (1911) und Le sacre du printemps (Das Frühlingsopfer, 1913) in Verbindung gebracht. Doch das ist nur ein schmaler Ausschnitt aus der ganzen Geschichte. Zum einen setzten Diaghilew und Strawinsky ihre nicht immer einfache Zusammenarbeit in weiteren Projekten fort (etwa bei Le Rossignol), zum anderen arbeitete Diaghilew über zwei Dekaden hinweg auch mit anderen Komponisten zusammen, regte zu neuen Werken an und griff schon Bestehendes auf. Vor allem aber schuf er gerade in der Kooperation mit bildenden Künstlern etwas vollkommen Neues auf der Pariser Ballettbühne, sprengte die gedanklichen, moralischen und sonstigen Ketten und Etiketten der Gesellschaft (vor allem jene eng geknüpften vor dem Ersten Weltkrieg). Freilich: Jede Einspielung einer für die Ballets Russes geschriebenen Partitur kann davon nur einen kleinen Bruchteil abbilden – und dies schon gar nicht als unmittelbares historisches Dokument.

Und so ist denn auch diese Box (entgegen ihrer Bezeichnung) vor allem ein Zeugnis der späteren, rein musikalischen Interpretation der einst vertanzten Partituren. Daran ändert auch das nach Jahren (1909 bis 1929) chronologisch sortierte Repertoire nichts – es gibt eben nur einen Überblick, was man aufgeführt hat, aber nicht wie. Mit einem Essay von Jon Tolansky und alten (nicht immer gut wiedergegebenen) Fotographien im Booklet sowie kolorierten Szenenfotos auf den insgesamt 22 CD-Covern werden die Produktionen nur etwas lebendiger. Ein besonderer Reiz dieser wohlfeilen Box liegt allerdings in der unglaublichen Breite der Interpreten und Interpretationen, wobei teilweise tief ins Archiv gegriffen wurde (es ist unglaublich, was dort zu schlummern scheint), teilweise auch der angestrebten Vollständigkeit wegen lizensiert wurde: ausgegraben wurden etwa Sir Thomas Beechams Händel-Bearbeitung The Gods go A’Begging, Ottorino Respighis Rossini-Arrangement La Boutique fantasque und Vincenzo Tommasinis Le donne di buon umore nach Domenico Scarlatti; erstmals auf CD erscheint die Aufnahme einer im Kollektiv vorgenommenen Instrumentierung von Schumanns Carnaval op. 9 (durch Arensky, Glasunow, Kalafati, Liadow etc.). Die Zugabe (CD 22) mit historischen Aufnahmen verweist zurück in das Jahr 1908, als Diaghilew an der Pariser Oper Mussorgskis Boris Godunow mit Feodor Schaljapin herausbrachte. – Eine Box, die Musik- und Interpretationsgeschichte vereint.

Ballets Russes
Musik der Saison 1909 – Nikolai Tscherepnin. Le Pavillon d’Armide; Alexander Borodin. Polowetzer Tänze
Musik der Saison 1910 – Nikolai Rimski-Korsakow: Schéhérazade op. 35; Adolphe Charles Adam. Giselle; Robert Schumann. Carnaval op. 9; Igor Strawinsky. L’Oiseau de feu
Musik der Saison 1911 – Nikolai Tscherepnin. Narcisse et Écho op. 40; Carl Maria von Weber. Aufforderung zum Tanz; Peter Tschaikowsky. Schwanensee op. 20; Igor Strawinsky: Petruschka; Paul Dukas: La Péri
Musik der Saison 1912 – Claude Debussy. Prélude a l’Après-midi d’un faune; Mily Balakireff. Tamara; Maurice Ravel. Daphnis et Chloé
Musik der Saison 1913 – Claude Debussy. Jeux; Igor Strawinsky. Le Sacre du Printemps; Florent Schmitt. La Tragédie de Salomé
Musik der Saison 1914 – Richard Strauss. Josephslegende op. 63; Igor Strawinsky. Le Rossignol
Musik der Saison 1916 – Richard Strauss. Till Eulenspiegel op. 28; Gabriel Fauré: Pavane fis-Moll op. 50
Musik der Saison 1917 – Domenico Scarlatti / Vincenzo Tommasini. Le Donne di buon umore. Suite; Igor Strawinsky. Feu d’artifice op. 4; Anatoly Liadow. Kikimora op. 63; Baba-Yaga op. 56; Eric Satie. Parade
Musik der Saison 1919 – Gioachino Rossini / Ottorino Respighi. La Boutique fantasque op. 120; Manuel de Falla. El sombrero de tres picos
Musik der Saison 1920 – Igor Strawinsky. Le Chant du Rossignol; Pulcinella
Musik der Saison 1921 – Peter Tschaikowsky. Dornröschen op. 66; Sergei Prokofjew. Le Bouffon. Suite op. 46
Musik der Saison 1922 – Igor Strawinsky. Le Renard
Musik der Saison 1923 – Igor Strawinsky. Les Noces
Musik der Saison 1924 – Francis Poulenc. Les Biches; Modest Mussorgski. Eine Nacht auf dem kahlen Berge; Georges Auric: Les Fâcheux; Darius Milhaud: Le Train Bleu
Musik der Saison 1926 – Eric Satie / Darius Milhaud: Jack in the Box
Musik der Saison 1927 – Henri Sauguet. La Chatte; Eric Satie: Mercure; Sergei Prokofjew. Le Pas d’acier op. 41
Musik der Saison 1928 – Georg Friedrich Händel / Thomas Beecham: The Gods go A’Begging; Igor Strawinsky. Apollon musagète
Musik der Saison 1929 – Sergei Prokofieff. Le Fils prodigue op. 46
Historische Aufnahmen – Modest Mussorgski. Boris Godunow (Auszüge); Igor Strawinsky. Le Sacre du printemps; Satie. Parade

Peter Donohoe (Klavier), Emmanuel Pahud (Flöte), Natalie Dessay (Sopran), Marie McLaughlin (Mezzosopran), Violeta Urmana (Alt), Vsevolod Grivnov (Tenor), Albert Schagidullin (Bariton), Laurent Naouri (Bariton), Maxime Mikhailov (Bass), Victoria de los Ángeles (Sopran), Patrice Fontanarosa (Violine), Patrick Gallois (Flöte), Bertrand Gernat (Oboe), Yves Couëffe (Trompete), Yvonne Kenny (Mezzosopran), Robert Tear (Tenor), Robert Lloyd (Bass), Éric Tappy (Tenor), Pierre-André Blazar (Tenor), Philippe Huttenlocher (Bariton), Jules Bastin (Bass), Siegfried Schmidt (Cimbalon), Basia Retchitzka (Sopran), Arlette Chedel (Alt), Martha Argerich (Klavier), Nelson Freire (Klavier), Edward Auer (Klavier), Suzanne Husson (Klavier), Feodor Schaljapin (Bass), Margherita Carosio, The Hague Chamber Choir, Chœurs Réne Duclos, Ambrosian Singers, Moscow Symphony Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Philharmonia Orchestra, Boston Symphony Orchestra, Residentie Orchestra, Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire, London Symphony Orchestra, City of Birmingham Symphony Orchestra, Orchestre National de l’ORTF, Berliner Philharmoniker, Staatskapelle Dresden, Orchestre du Theatre National de l’Opera de Paris, Bergen Philharmonic Orchestra, Orchestre de Chambre de Lausanne, Orchestre National du Capitole de Toulouse, Orchestre National de France, Academy of St. Martin in the Fields, Ensemble Instrumental, Oslo Philharmonic Orchestra, Orchestre National de l’Opera de Monte-Carlo, Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden, Orchestre de Paris, Royal Philharmonic Orchestra, São Paulo Symphony Orchestra, Henry Shek, Seiji Ozawa, Robert Irving, Gennady Roshdestvensky, André Cluytens, André Previn, Simon Rattle, Jean Martinon, Lovro von Matačić, Igor Markevitch, Rudolf Kempe, James Conlon, Lorin Maazel, Eliahu Inbal, Dmitri Kitaenko, Armin Jordan, Michel Plasson, Alceo Galliera, Rafael Frühbeck de Burgos, Pierre Boulez, Neville Marriner, Claudio Abbado, Charles Dutoit, Georges Prêtre, Mariss Jansons, John Lanchberry, Pierre Dervaux, Thomas Beecham, Marin Alsop, Max Steinmann, Eugene Goossens
Warner 0190296477157 (1926–2012)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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