21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Gabriel Vicéns – Mural

Gabriel Vicéns – Mural
Gabriel Vicéns – Mural

Es kommt nicht so häufig vor, dass man beim Hörer «Neuer Musik» – und ich habe es fast immer eigentlich nur mit bisher wenig oder nie gehörter Musik zu tun – die Lauscher nach wenigen Sekunden auf Hab-Acht-Stellung bringt. Da ist plötzlich ein Unbedingtheit wahrzunehmen, die nicht aus einer abstrakten Vorstellung stammt oder einem Konzept hervorgekrochen kommt, sondern aus genau dem, was Musik, so blöd es klingt, ausmacht, nämlich bewegte Luft. Es kommt darauf an, wie und warum sie bewegt wird.

Der mir bisher vollkommen unbekannte Komponist Gabriel Vicéns ist in Puerto Rico geboren, Gitarrist und bildender Künstler, lebt in New York und pflegt musikalisch das tönende Reich. Und zwar in einer Weise, bei der zumindest ich nicht beim Verfolgen und hörenden Begleiten überfordert werde. Jede musikalische Bewegung hat ein ganz in sich stimmiges Tempo (das fließend seine Bewegungsintensität verändert), alle Klangformationen dieser hier sieben vorgelegten Kammermusikstücke lassen Luft zum Hören.

«I create musical compositions with melody, harmony, rhythm, timbre, and register, and every instrument and part of the composition is equally important to me. Everything needs to work together. The same principle applies to my paintings, but with color, form, line, and texture instead of musical elements. I see my paintings as an extension of my music and vice versa», sagt er im Begleittext zu den Kompositionen. Wahrscheinlich ist das der Schlüssel – wie eben jede Position auf einer Leinwand eine Relation herstellt zu jeder anderen Position (und zwar nicht mit Absicht, nicht als zufälligem Ergebnis eines Sowieso oder Ohnehin), so kippt Gabriel Vicéns die Musik in die Zeitachse als Relationsmusik – vertikal und horizontal. Relationen, das Gespür für Gewichte von Klängen in ihren Beziehungen untereinander, dafür findet der Komponist sowohl in Leere wie Motorik die Form.

Dass dies so fabelhaft funktioniert, dafür trägt das Ensemble der Musiker:innen die volle Verantwortung. Sie realisieren diese so bestimmte Musik mit der Leichtigkeit, die der jeweiligen Energie und Geschmeidigkeit der sieben Kompositionen angemessen ist.


Gabriel Vicéns – Mural [2024]

Musiker:innen der Kompositionen

  • Mural
    (Raissa Fahlman, clarinet – Joenne Dumitrascu, violin – Corinne Penner, piano)
  • Sueños Ligados
    (Adrianne Munden-Dixon, violin – Rocío Díaz de Cossío, cello – Mayumi Tsuchida, piano)
  • El Matorral
    (Roberta Michel, flute – Raissa Fahlman, clarinet – Joenne Dumitrascu, violin – Wick Simmons, cello – Corinne Penner, piano – John Ling, vibraphone – David Bloom, conductor)
  • Una Superficie Sin Rostro
    (Corinne Penner, piano)
  • Carnal
    (Adrianne Munden-Dixon, violin – Mayumi Tsuchida, piano –
  • Ficción
    (Nu Quintet – Kim Lewis, flute – Michael Dwinell, oboe – Kathryn Vetter, clarinet – Tylor Thomas, bassoon – Blair Hamrick, horn)
  • La Esfera
    (Julia Henderson, cello – Mikael Darmanie, piano)

Stradivarius STR 37292 (VÖ: 29. März 2024)

Autor

  • Martin Hufner. Foto: Kurt Hufner

    Martin Hufner ist Musikjournalist, Musikwissenschaftler, Blogger. Er betreut nebenbei die Online-Redaktion der neuen musikzeitung.

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