21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Eva Zöllner – voces, señales

Eva Zöllner: voces, señales
Eva Zöllner: voces, señales

Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich würde mich mit zeitgenössischer kolumbianischer Musik für Akkordeon auskennen. Umso gewichtiger scheint mir die Tatsache, dass mit diesem Album der Akkordeonistin Eva Zöllner nun ein Zugang gelegt worden ist. Den hier eingespielten Kompositionen eignet eine Wucht und Intensität an, die sofort eine akustische Bindung zu erzeugen in der Lage ist. Die «CD spiegelt die Bandbreite des aktuellen experimentellen Musikschaffens des Landes wider. Klänge der zeitgenössischen Musik, Umweltgeräusche, Elektronik und scheinbar Vertrautes mischen sich in den Kompositionen», liest man im instruktiven Booklet der CD.

«Zeitgenössisches Musikschaffen in Kolumbien mit dem Akkordeon zu entdecken, bietet besondere Anknüpfungspunkte, da das Instrument fest in der populär-musikalischen Kultur des Landes verwurzelt ist», schreibt Eva Zöllner. Das Instrument verankert sich damit in der Musikkultur des Landes. Daher scheint es auch geeignet, direkt ins Zentrum zeitgenössischen Komponierens vor Ort einzudringen. Liest man die Texte zu den einzelnen Werken und zu deren Konzeption, dann spielt auf der anderen Seite die politische und historische Geschichte des Landes ebenso in die Klangwelt und Machart hinein, die fast immer einen politisch- oder privat-historischen Anlass hat. Es ist da viel von Gewalt und Schmerz zu lesen und von dem Umgang mit dieser speziellen kolumbianischen Lebenswelt und seiner jüngeren Geschichte. Wer nun vielleicht eine dazu sich rau anfassende Musik erwarten würde, dürfte sich getäuscht fühlen. «Brother» von Natalia Valencia Zuluaga schlägt eher zarte Zungen an, die mit Trübungen und Schärfungen angereichert werden, sich reflektierend durch Tonwelten tastend.

In den Werken, die mit Zuspielungen arbeiten wie bei Jorge Gregorio García Moncadas Komposition «Un amor, puro e incondicional» steht dagegen das Akkordeon als eher persönlichen Farbe innerhalb eines Hörbilds aus O-Tönen und elektronischen Klängen im akustischen Raum.

«posdomingo» von Ana María Romano G. gestaltet sich zu einem Soundtrack-Kommentar zur jüngeren Geschichte Kolumbiens und bezieht sich auf das gescheiterte Referendum zum Friedensabkommen mit der «FARC», was sich in geradezu besinnliche, zurückhaltend, nachdenklichen Klangfiguren kompositorisch darstellt – alles immer sehr sprechend, konkret ohne allen Leerlauf.

Das Akkordeon ist eine ungeheuer mächtige Maschine. Es erzeugt die intensivsten, tiefsten und extravagantesten Klänge.

Carolina Noguera Palau

Was Carolina Noguera Palau zu ihrer Motivation beim Komponieren von «Canto del ave negra» sagt, dürfte in ähnlicher Form für alle hier aufgenommenen Werke gelten: «Diese Art, sich beim Hören zu verlieren, ist das, was ich suche, ohne Unterschiede zwischen den Klängen oder Kulturen, ohne Konzept, ohne Worte und Werte. (…) Das Akkordeon ist eine ungeheuer mächtige Maschine. Es erzeugt die intensivsten, tiefsten und extravagantesten Klänge. Darauf zu hören hat mir geholfen, mich in den Zustand zu versetzen, den ich suche.»

Carlos Andrés Rico macht in seinem Stück «Nacido en el Valle, el Río y la Montaña eine musikalische Expedition zu den Anfängen des Vallenato», lernt man im Booklet und nimmt vor allem den hier durchaus vorhandenen Witz der populären Musikpraxis aus dem ganzen Kulturraum dieses Kontinents und seiner speziellen Prägung in Kolumbien dankbar mit.

Mit Eva Zöllner werden die sechs Kompositionen in die Hände einer ebenso technisch souveränen Musikerin gelegt, die in höchstem Maße empathisch den Kompositionen sich annähert und sie uns anverwandeln lässt. Das ist ebenso klar gespielt, wie von Wärme und – man möchte emphatisch werden – von Zuneigung durchtränkt. Eine bessere Darstellung lässt sich wohl kaum denken.


Eva Zöllner – voces, señales (Contemporary Accordion Music from Colombia) [2023]

Ana María Romano G. (*1971): posdomingo 02.10.2016 (2016) – Carolina Noguera Palau (*1978): Canto del ave negra (2018) – Carlos Andrés Rico (*1986): Nacido en el Valle, el Río y la Montaña (2015) – Daniel Leguizamón (*1979): signo a cambio (2022) – Natalia Valencia Zuluaga (*1976): Brother (2022) – Jorge Gregorio García Moncada (*1975): Un amor, puro e incondicional (2016)

  • Eva Zöllner – Akkordeon

Genuin Classics – GEN 23838 (VÖ: 8.9.2023)

Autor

  • Martin Hufner. Foto: Kurt Hufner

    Martin Hufner ist Musikjournalist, Musikwissenschaftler, Blogger. Er betreut nebenbei die Online-Redaktion der neuen musikzeitung.

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