21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Detlev Glanert: Oceane

Detlev Glanert: Oceane
Detlev Glanert: Oceane

Selten nur wurde eine Opern-Uraufführung in den letzten Jahren so einhellig umjubelt. Auch die (Wieder-)Begegnung mit der Berliner Uraufführung von Detlev Glanerts Oceane (2016–2018) macht rasch klar, was an diesem Werk so begeistert hat, denn es handelt sich um ein emotional berührendes Seelendrama, gewaltig mitreißend und leise nachhörend. Zudem erscheint der von Theodor Fontane adaptierte Plot nicht unnötig transzendiert, sondern erfahrbar gemacht – und zeigt damit den weithin unterschätzten norddeutschen Poeten nicht als Biedermann des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern als radikalen Vordenker.

Oceane von Parceval, die dem Meer entsprang und die bürgerliche Welt mit kühler, suchender Ekstase in ihrer Enge vorführt, verlangt ungehört nach Befreiung – auch in der Gegenwart: Wie aktuell muten die Dialoge mit Martin von Dircksen an, dem jungen vorpommerschen Gutsbesitzer: «Ich bin so reich wie die Kiesel am Strand» – «Steine empfinden doch nichts«; oder: »Alle wollen glücklich sein« – »Jeder auf seine Weise. Und ich mit dir an meiner Seite.« Oceane aber hat weder Träne, Gebet noch Liebe: »Ich habe nur Sehnsucht nach dem allem.« So gelingt es Martin letztlich nicht, die vermeintliche Femme fatale an sich zu binden, während die suchende Oceane anderntags in die Kühle der See zurückkehrt. Glanert hat ein wahrhaft stürmisches Drama geschaffen – nicht nur dank der Windmaschine. Seine Partitur reißt mit und erzählt eine alte und doch so seltsam moderne Geschichte in erschütternder Intensität. Nicht durch dramaturgische Tricks, sondern durch die klare musikalische Gestaltung der einzelnen Charaktere (etwa des selbstgefälligen Pastor Paltzer) und eine Tonsprache, die sofort einnimmt ohne sich anzubiedern. Die hier festgehaltene großartige Produktion aus der Deutschen Oper mag hoffentlich weitere Häuser zu einer eigenen Deutung ermuntern.


Detlev Glanert. Oceane (2016–2018)
Maria Bengtsson (Sopran), Nikolai Schukoff (Tenor), Christoph Pohl (Bariton), Nicole Haslett (Sopran), Albert Pesendorfer (Bass), Doris Soffel (Mezzo), Stephen Bronk (Bass-Bariton), Chor der Deutschen Oper Berlin, Orchester der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles

Oehms Classics OC 985 (2019)

 

HörBar<< Malcolm Arnold: The Dancing MasterHans Werner Henze: Der Prinz von Homburg >>

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    View all posts
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden.

DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #022 – Oper 20./21. Jahrhundert