Pierre Boulez – Livre pour quatuorEin wirklich besonderes Album, das am Ende einer mit ihm verbundenen Werkgenese steht. Schon bei seiner Gründung setzte sich das Quatuor Diotima mit dem Livre pour quatuor auseinander, später kam es gar zu einer intensiven Zusammenarbeit mit Pierre Boulez in Baden-Baden, aus der eine Revision der Partitur hervorging (2012). Für einen Konzertzyklus sollten dann die einzelnen Sätze zwischen Werken von Schönberg und Beethoven stehen – ein Vorhaben mit gattungsgeschichtlicher Tiefe, für das allerdings der unvollendete vierte Satz fehlte. Boulez machte das bereits archivierte Material zugänglich, konnte die eigene Revision jedoch nicht mehr abschließen. Dies übernahm dann Philippe Manoury, allerdings auf eine für den Hörer unklaren Art und Weise, denn im Booklet heißt es dazu einschränkend, es handele sich lediglich um eine Fassung, die «den Geist des Satzes rekonstruiere.»
Werbung
Dass Boulez mit der zwischen März 1948 und Juli 1949 entstandenen Partitur nach seiner explosiven zweiten Klaviersonate nun auch das traditionsverbundene Streichquartett von innen heraus transzendieren und auflösen wollte, ist nicht nur hörbar, sondern auch in der Konstruktion angelegt. Diese ermöglicht einmal eine vollständige Aufführung des Unvollständigen (was erst 1985 durch das Arditti Quartet geschah), aber auch die Präsentation jedes einzelnen Satzes oder einer Auswahl. Aus dem zunächst auch so bezeichneten «Streichquartett» wurde unter dem Einfluss der Mellarmé-Lektüre ein mehrsätziges «Buch», aus dem kammermusikalischen «Buch» später ein eigenständiges Werk für 60 Streicher (Livre pour cordes, 1968). – Was an dieser Nue-Einspielung des Werkes sofort auffällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der das Quatuor Diotima jede Note, jede Geste gestaltet. Diese Vertrautheit mit der komplexen Partitur und der Entwicklung des Materials schafft wiederum ein unmittelbares Vertrauen in die Interpreten und ihre Interpretation der technisch höchstanspruchsvollen Stimmen. Hinzu kommt eine fulminante Akustik, die einen dicht an die Instrumente führt und dennoch ein Ensemble im Raum klingen lässt.
Werbung
Pierre Boulez. Livre pour quatuor (1948/49, Fassung 2017, ergänzt von Philippe Manoury)
Quatuor Diotima Pentatone PTC 5187 360 (2023)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.