Friedrich Gulda – JazzDieses Album mit Aufnahmen aus den Archiven des SWR gleicht einer Zeitreise. Daher zunächst: Dass Friedrich Gulda (1930–2000) ein Reisender zwischen den Stilen war, ist vermutlich auch noch heute allgemein bekannt – nur dass es dafür noch immer an weithin klingenden Beweisen fehlt. Diese werden nun nachgeliefert. Und ich finde: Mit der Sinfonie in G landet man wirklich in den Anfängen der 1970er Jahre und einem authentischen Lebensgefühl, das einem gleichermaßen vertraut wie fremd erscheint. Sowohl der Jazz als auch die «klassische» Musik haben sich abseits der Avantgarde längst in ganz andere Richtungen entwickelt. Und dennoch: Hier tauchen vor dem inneren Auge progressive Bilder auf, die im heutigen Diskurs längst antiquiert erscheinen. Auch in der zeitgenössischen Moderne frisst die Revolution ihre Kinder …
Was an der Sinfonie in G wirklich «Jazz» ist oder war, ließe sich diskutieren. Beim Hören fiel mir dann doch der eine oder andere Filmscore ins Ohr, der in ähnlicher Weise ein «70er Jahre Crossover» wagte – und damit am Ende gar nicht auf Entsetzen stießen. – Bleibt die zweite Hälfte des Albums mit dem Live-Mitschnitt eines Konzerts vom 6. Juni 1971 von den Heidelberger Jazztagen. Gulda spielt Gulda (und Fritz Pauer). Eine unglaublich trockene Aufnahme, die noch immer radikal von den Tasten herkommt, mit viel Applaus und am Ende mit einem Gesamtkonzept. Dass Friedrich Gulda einer der ganz Großen seiner Zunft war, dass er die Genregrenzen mit Substanz überbrückte, dass er Beethoven und Improvisation versöhnte, dürfe zu seinen bleibenden Verdiensten gehören. Davon erzählt dieses Album auch – und wer Ohren zum Hören hat, wird dies nicht nur wahrnehmen, sondern auch als eigenen Gewinn empfinden.
Friedrich Gulda. Sinfonie in G; Entrée; Variations; Play Piano Play Nr. 4; Präludium & Fuge; Fritz Pauer. Etüde Nr. 2 aus Meditationen; Friedrich Gulda, Fritz Pauer, Radio-Orchester Stuttgart, Südfunk-Tanzorchester SWR 19096CD (1970; 1971)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.