Hans Otte / Carlos CipaImmer mehr Alben erscheinen nur noch digital – wenn auch noch nicht mehrheitlich, so doch aber in signifikanten Größenordnungen. Die Argumentation der Labels ist durchschaubar: Wo der CD-Player bereits ein Auslaufmodell ist und stattdessen unendlich gestreamt werden kann, da will man kein Geld in physische Produkte investieren, sondern verlagert sich (und damit auch die Musiker:innen) gleich ganz ins Netz. Aber ob die Rechnung aufgeht? Es gibt Aufnahmen, die würde ich auf jeden Fall lieber in den Händen halten und auf diesem Weg auch Informationen zu Musik und Interpreten zu erhalten. Spotify aber kennt keine Booklets. Und da bin ich auch schon bei der aktuellen Produktion mit dem Buch der Klänge von Hans Otte, gespielt von Carlos Cipa – erschienen bei (oder eher: durch) Warner Classics.
Denn das Label scheint (so viel Ehrlichkeit muss sein) das Album nicht wirklich editorisch betreut zu haben. Dass der Künstler auf seiner eigenen Homepage nur die Tracklist wiedergibt, mag noch verständlich sein. Dass aber bei Warner keine grundlegenden Metadaten zur Verfügung gestellt werden, ist ein Unding! Keine Informationen über Carlos Cipa, keine Erläuterung zu den Werken (geschweige denn zum Komponisten), kein Datum und kein Ort der Aufnahme, keine offizielle Katalognummer. Nur die Einladung, die Musik gegen Bezahlung bei diesem oder jenem Anbieter zu hören. Wenn das die Zukunft ist, dann «Gute Nacht». Bleibt am Ende wieder einmal die Einspielung selbst. Und die sollte man sich unter dem Kopfhörer anhören, so aufregend nah waren die Mikrophone am Instrument platziert – wie in der Nr. 10, wo auch mechanische Klänge mitspielen. Man mag Carlos Cipa vorwerfen, das inzwischen ikonisch gewordene Buch der Klänge des legendären Hans Otte (1926–2007) ein wenig zu sehr in Richtung der unverbindlichen «New Classics» gerückt zu haben. Wer sich die Einspielung aber wiederholt vornimmt (und vergleicht), spürt einen frei atmenden Fluss der Töne, aus dem Ausdruck und Atmosphäre erwachsen.
Hans Otte. Buch der Klänge
Carlos Cipa (Klavier) Warner 2173225420 (2024)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.
