12. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Haydn-Sinfonien / Derek Solomons

Haydn-Sinfonen / Derek Solomons
Haydn-Sinfonen / Derek Solomons

Die allermeisten Haydn-Sinfonien schlummern im Dornröschenschlaf. Und werden sie einmal eingespielt, dann nehmen sie oft genug die Rolle des Aschenputtels ein. Das zeigt auch ein Blick auf die mit ihnen verbundenen diskographischen Großprojekte: So ist die wichtige und legendäre Gesamteinspielung mit der Philharmonia Hungarica unter Antal Dorati (Decca, 1970–1974) aufführungspraktisch längst in die Jahre gekommen, die jüngere Aufnahme mit dem Austro-Hungarian Haydn-Orchestra unter Adam Fischer wurde bereits einer Zweitverwertung zugeführt (Brilliant, 1987–1997). Eine zeitlich nachfolgende Naxos-Produktion setzte auf mehrere Orchester (1988–2008), die Gesamteinspielung des Stuttgarter Kammerorchesters und Dennis Russel Davies (Sony, 1998–2009) blieb hinter den Erwartungen zurück. Traurige Ironie der Geschichte: Die bahnbrechenden Interpretationen von Christopher Hogwood mit der Academy of Ancient Music (Decca, 1990–2000) wurden vom Label bei der Nr. 75 (also unmittelbar vor den «populärsten» Werken) aus wirtschaftlichen Gründen abgebrochen. Da hatte das Management entweder kein glückliches Händchen oder einen rabenschwarzen Tag.

Ein ewiger Geheimtipp ist bis heute die Einspielung von immerhin 49 frühen und mittleren Sinfonien mit L’Estro Armonico unter Derek Solomons (1980–1986) geblieben. Die Veröffentlichungsgeschichte ist mysteriös: Zunächst erschienen einige LPs bei Saga in Großbritannien. Als die Serie dann bei CBS Masterworks auf CD fortgesetzt wurde, ließ man ausgerechnet die frühen Sinfonien aus, darunter auch die bis dahin unveröffentlichten Sinfonien Hob. I:16, 17, 19, 20 und 108. Diese Doppel- oder Tripelalben wurden wiederum von Nr. 7 bis Nr. 11 gezählt. Warum die offenbar groß angelegte Gesamteinspielung dann aber abgebrochen wurde, ist ein ungelöstes Rätsel – so wie auch der 1937 in London geborene Derek Solomons kaum Spuren (im Netz) hinterlassen hat. Doch wer einige der bald wieder vom Markt verschwundenen CDs in seiner Sammlung hatte, wusste sie als Raritäten zu schätzen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Mitte der 1980er Jahre (geprägt von Doratis Pioniertat) schon nach dem ersten Hören ins Staunen und Schwärmen geriet. Dass sich Sony als Rechteinhaberin erst jetzt, nach über 40 Jahren, zu einer Wiederveröffentlichung durchgerungen hat, ist eigentlich ein Skandal. Gleichzeitig macht sich Dankbarkeit breit, sich endlich an allen verfügbaren Aufnahmen satt hören zu können. Wie aber gelang es Solomons damals mit seinem handverlesenen Orchester, dass auch noch im Herbst 2024 jede Sinfonie so neu klingt, so originell und so unmittelbar? Die Antwort ist einfach: Er traf musikalisch den Nerv jeder einzelnen Partitur, spürte den Tönen, Linien und Harmonien nach, ohne sich dabei zu überschlagen, aber eben auch ohne jede Routine. Solomons «diente» dem Komponisten und seinem Œuvre auf eine Weise, wie man sie im 21. Jahrhundert kaum noch findet. Die anhaltende Frische der Interpretation, die technische Perfektion und die noch immer spürbare Lust der Musiker:innen machen jede Phrase, jeden Satz zu einem Erlebnis – und sie machen die Musik des oft belächelten Joseph Haydn zu dem, was sie ist: großartig.

Joseph Haydn. Sinfonien Nr. 1–5, 10–11,15–20, 26–27, 32–33, 35, 37–39, 41–52, 54–60, 63–69, 106–108
L’Estro Armonico, Derek Solomons

Sony 19658829892 (1980–1986)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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